Wenn das neoliberale System zurückschlägt, bleibt kein Auge trocken. Aktuell hat es Éric Coquerel erwischt. Coquerel ist Franzose, Jahrgang 1958. Von 2014 bis 2021 war er Koordinator der von Jean-Luc Mélenchon gegründeten Linkspartei Frankreichs, die Ausgangsbasis für La France insoumise (‚Unbeugsames Frankreich‘), stärkste Gruppierung im linken Wahlbündnis NUPES. Seit 2017 ist Éric Coquerel Abgeordneter in der Nationalversammlung, gerade im Wahlkreis Seine-Saint-Denis wiedergewählt. Dem Oppositionsbündnis NUPES steht nach altem parlamentarischen Brauch und Proporzschlüssel aufgrund der Zahl der Mandate der Vorsitz im wichtigsten Ausschuss in der Nationalversammlung zu, der Finanzausschuss. NUPES nominierte Éric Coquerel. Sehr zum Unmut der Macronisten und von Marine Le Pen und ihrem Rassemblement National (RN). Somit schlossen das Macron Lager und das Le Pen Lager ein Bündnis, um Coquerel zu verhindern. Gegen die parlamentarische Tradition unterstützte dieses Bündnis, von dem in Deutschland niemand berichtet, weil das dem deutschen Idealbild von Macron Rostflecke bescheren könnte, einen Abgeordneten der kleinen Zentrumspartei, Charles de Courson. Dieser war bisher Vorsitzender des Finanzausschusses. Courson wurde gegen parlamentarische Absprachen vom Macron-Bündnis und von der Fraktion des RN in zwei Wahlgängen bevorzugt. Als de Courson dies mitbekam, zog er im dritten Wahlgang als überzeugter Parlamentarier, der er sein Leben lang war, seine Kandidatur nobel zurück, um Coquerel das Feld zu überlasen. Er zeigte sich als großer Demokrat und stellte gleichzeitig das geheime Bündnis Le Pen und Macron bloß. Coquerel wurde zum Ausschussvorsitzenden gewählt.
Coquerel ging nach der Wahl sofort ans Werk, stellte eine Agenda vor, die dem Willen der NUPES-Wähler entsprach und großen Anklang in der Bevölkerung fand, weit über die NUPES-Anhängerschaft hinaus. Keine Steuerschlupflöcher mehr für Superreiche, keine unkontrollierten Beraterverträge zwischen Heuschrecken wie McKinsey und der Regierung sowie Offenlegung aller bisher abgeschlossenen Verträge dieser Art. Damit hatte Coquerel ins neoliberale Wespennest gestochen. Man wartete bei den Linken, wie wohl der Gegenschlag aussehen würde. Er kam in Form von #MeToo schon einen Tag nach Coquerels Wahl auf allen Medienkanälen des Landes. Der Vorwurf wurde erhoben von einer ehemaligen Aktivistin der Linkspartei und der Gelbwesten, die Coquerel „unangemessene Gesten“ während einer ausgedehnten Tanzparty in einem Nachtklub 2014 vorwirft. Lassen wir den Namen der Beschwerdeführerin hier aus. Nur so viel, selbige Person warf vor geraumer Zeit schon Jean-Luc Mélenchon vor, sie hätte eigentlich die linke Partei gegründet und fand dafür wenig Gehör, eher mitleidiges Kopfschütteln. Ihre Bühne sind nun die Medien. Weil dem so ist, gibt sie bei Twitter an, eine ‚Medienpersönlichkeit‘ zu sein. Für die erhobenen Vorwürfe gibt es bisher weder Zeugen noch Beweise. Coquerel bestreitet alle von der Klägerin vorgebrachten Punkte. Das alte Spiel, Aussage gegen Aussage. Die Zeitschiene von 2014 bis heute und warum einen Tag nach Coquerels Wahl soll hier nicht behandelt werden. Coquerel sollte gewusst haben, wer den Neoliberalismus ernsthaft angeht und die Mittel dazu hat, was bei einem Ausschussvorsitzenden der französischen Nationalversammlung durchaus gegeben ist, der gefährdet zumindest seine Reputation und Existenz. Das Schicksal des ehemaligen Labour-Vorsitzenden Jeremy Corbyn sollte auch jedem Linken in Europa vor Augen stehen. Linke, so sie den Kapitalismus hinterfragen und damit Menschen erreichen, sind immer in Gefahr. Salvador Allende hat dies wenige Minuten vor seinem Tod eindrucksvoll in unvergessene Worte gefasst:
Sie haben die Macht, sie können uns zerstören, aber der soziale Fortschritt kann weder durch Verbrechen noch durch Gewalt gestoppt werden. Die Geschichte gehört uns, und die Menschen machen sie möglich.“
*Titelbild: Éric Coquerel auf dem Weg in die Nationalversammlung (Foto: Twitter LFI)