Kultur

Karl Kraus

DEFINITIONEN

Leben ist, wenn es längst schon kein Leben. Freiheit ist, wenn Gewalt gleich daneben.

Behörde ist, wenn man sichs richtet. Zeitung ist, wenn es meistens erdichtet.

Gerücht ist, wenn man nicht weiß, wer’s erlogen. Geschäft ist, wenn man gleichfalls betrogen.

Ordnung ist, wenn man die Unordnung duldet. Ruin ist, wenn er meist selber verschuldet.

Friede ist, wenn man ihn nicht kann erlangen. Krieg ist, wenn man nicht angefangen.

Mut ist, wenn oberster Kriegsherr befiehlt. Gut und Blut ist, wenn Vaterland mordet und stiehlt.

Republik ist, wenn halt nicht Monarchie ist. Monarchist ist, wenn man ein Vieh ist.

Majestät ist, wenn sie geruht hat. Kritik ist, wenn man auf wen eine Wut hat.

Theater ist, wenn Direktion in Krisen. Frühling ist, wenn Herbst auf den Wiesen.

Adel ist, wenn es zu nichts verpflichtet. Andacht ist, wenn man’s vor Leuten verrichtet.

Moral ist, wenn grad niemand dabei ist. Zweifel ist, wenn es ganz einerlei ist.

Glaube ist, wenn man jenseits den Lohn hat. Ruhm ist, wenn man sonst nichts davon hat.

Flucht ist, wenn Siegfriedstellung bezogen. Zusammenbruch ist, wenn alles reiflich erwogen.

Abgrund ist, wenn man davor immer stehn tut. Wunder ist, wenn es trotzdem gehn tut.

Sanierung ist, wenn die Toten gesunden. Justiz ist, wenn die Augen verbunden.

Inserat ist, wenn es unten ein Kreuz hat. Gesetz ist, wenn Umgehn seinen Reiz hat.

Abgeordneter ist, wenn man gegen alles immun ist. Volkszählung ist, wenn nichts Gscheitres zu tun ist.

Tugend ist, wenn es vorbei mit dem Durst ist. Staat ist, wenn schon eh alles wurst ist.

(„Gedichte von 1922 bis1930“. Schreibweise nach Kraus.)

Karl Kraus: Geboren am 28. April 1874 im nordböhmischen Gitschin. (Heute Jičín in Tschechien.) In Wien studierte Kraus später Jura, Philosophie und Germanistik. Kein Studium wurde abgeschlossen. Bereits während der Studienzeit erschienen Beiträge von ihm in Zeitungen und Zeitschriften. 1899 gründete er die Zeitschrift „Die Fackel“. Bis zu seinem Tod 1936 eine Ein-Personen-Zeitung. Er ist außerdem Autor des Theaterstücks, Buches, Dramas „Die letzten Tage der Menschheit“. Was Kurt Tucholsky für Berlin war Karl Kraus für Wien. Eine gegenseitige Wertschätzung der Texte und Haltung des jeweils anderen ist bekannt. Meister unter sich. Als Tucholsky eine Berliner Lesung von Karl Kraus besuchte, rezensierte er anschließend im Berliner Tageblatt (22.01.1920): „Hier ruft ein Mensch und gibt euch alles in allem: Kunst, Gesinnung, Politik und sein rotes, reines Herzblut.“

 

 

 

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