Fritz Kortner, 1892 in Wien und Werner Krauß, 1884 in der Nähe von Coburg geboren, sind wohl bis heute die bedeutendsten und großartigsten Schauspieler, die je auf deutschsprachigen Bühnen standen. Weder in ihrer Zeit noch danach konnte sich jemand mit diesen Titanen messen. Ihr Ruhm stieg zwischen den Weltkriegen auf einsame Höhen in Berlin, damals die Theaterhauptstadt der Welt. Darin Kortner und Krauß, die Schauspielkönige der Weimarer Republik. Beide mit Talent und Können gesegnet und begnadet. (Werner Krauß schrieb sich zeit seines Lebens unterschiedlich. Er pendelte zwischen „ss“ und „ß“, wie es ihm beliebte. Kritiker, Theaterbesucher und Kollegen taten es ihm gleich. Krauß/Krauss liebte diese Verwirrung. Der Autor dieser Zeilen entscheidet sich für das „ß“.) Beim Stellenwert, den das Theater damals noch hatte, gehörten jedenfalls Kortner wie Krauß zu den herausragenden Fixsternen am Himmel einer pulsierenden und politisch brodelnden Weltmetropole. Sie waren beide Teil des glanzvollen Inventars von Berlin.
Kortner eine Urgewalt, ein Berserker auf der Bühne des Preußischen Staatstheaters, der große Klassikerspieler. Hamlet, Richard III., Shylock, Ödipus, Herodes, Philipp II., Gessler, Othello, Macbeth und viele andere Rollen. Krauß ein atemberaubender Verwandlungskünstler, auch er bei den Klassikern daheim. Schuster Voigt, Fuhrmann Henschel, Philipp II., Wallenstein, Mephisto, Matthias Clausen, Jago und viele andere Figuren. Manche Rollen spielten beide, andere blieben Kunstwerk nur des einen. Von ihren Auftritten sprach Berlin, Kritiker schrieben eher Elogen als Verrisse. Selbst im Stummfilm und später im aufkommenden Tonfilm konnten Kortner und Krauß umgehend in eindrucksvollen Filmrollen überzeugen. Ihr Metier und Königreich blieb dennoch die Bühne. Kortner war ein äußerst politischer Mensch, glühender Anhänger der Republik und als Jude schon früh in seinem Leben mit Antisemitismus vertraut. Krauß der angeblich Unpolitische, der lieber in der Weinstube herumalberte und der es nahm, wie es kam. Hauptsache spielen. Und es kam dicke. Aber auf eine ganz unterschiedliche Art. Die Nazis ante portas.
Fritz Kortner wurde von den Nationalen, den Monarchisten und den Rechten, natürlich von den Nazis gehasst. Er stand auf der Seite der progressiven Kräfte und der Republik, war schon deshalb den alten Monarchisten wie den aufkommenden Faschisten ein Dorn im Auge. Auf der Bühne spielte Kortner in Stücken, die dem rechten Mob nicht gefielen. Jener Mob ging dann in Aufführungen und versuchte diese durch Störungen, Kundgebungen und Lärm während der Vorstellung zum Abbruch zu zwingen. Solchen Saalschlachten war der Vollblutschauspieler Kortner gewachsen, der sich dem schreienden Pöbel immer entgegenwarf, nie feige oder ängstlich das Feld räumte. Berühmt der Kampf um die ‚Wilhelm Tell‘ Aufführung von 1919. Das Schiller Drama wurde von Regisseure Leopold Jessner entschlackt und daher alle patriotischen und nationalistischen Töne entfernt. Die Rechten witterten Vaterlandsverrat und machten den Zuschauerraum zum Tollhaus. Es gab zu der Zeit noch Menschen und Bürger, die sich widersetzten und den Mob vor die Tür warfen. Kortner brüllte selbst gegnerische Massen nieder. Man schaue sich seinen Danton im gleichnamigen Film von 1931 an. Was für eine Stimmgewalt! Doch im kommenden Jahrzehnt wurde der Mob braun und machte sich auf den Weg an die Macht. Kortner stand in den Kämpfen der Zeit seinen Mann und machte sich Feinde weit außerhalb des Theaters. Werner Krauß spielte derweil Theater und freute sich des Lebens. Für Kortner war die Rolle seines Lebens wohl der Shylock im Kaufmann von Venedig. Dieser Shakespeare Figur gab er besonders 1927 eine Statur, die Publikum und Kritiker überwältigte. Das Wort geht hier an den berühmtesten Theaterkritiker der damaligen Zeit, an Alfred Kerr:
Kortner ist Held eines unauslöschlichen Trauerspiels. Es gibt in Deutschland keinen Sprecher, der das Wort von dem blutenden Menschen, wenn man ihn sticht, so hinreißend, so einfach, so dringlich, so tief erlebensvoll herausbrächte wie dieser Kerl. Etwas Einziges – über Schildkraut, über Krauß, über Bassermann. Ich sah keinen, der ihm gleicht. Wenn er am Schluss sein Haupt bedeckt. Wenn er nicht schreitet, sondern geschlagen ist. Gebrüll rings. Er bedeckt sein Haupt. Er war der Mittelpunkt eines ungeheuren Trauerspiels: Endbewusstsein für Zuschauer. Es war ein Trauerspiel um Shylock. Eine Menschenleistung hat man erlebt. Fürs Leben. (Berliner Tageblatt, 18.11.1927)
Und ein großer Fan des Schauspielers Fritz Kortner, der Physiker Albert Einstein, schrieb in einem Brief an Kortner:
Ich danke ihnen für die glaubhafte, klare, durchdachte Darstellung von Männern komplizierter Struktur, die aus innerer Notwendigkeit handeln.
Über solche Leistungen und Elogen sprach Berlin. Auch Werner Krauß wuchs in manchen Rollen noch über eigene Größe hinaus und erreichte Sphären, die nur ihm und Kortner zugänglich.
Der gestrenge wie berühmte Kritiker Kerr war damals nicht allein im theaterbesessenen Berlin. Ein Heer von großartigen Autoren und Rezensenten belieferte die unzähligen Tages-, Morgen- und Abendzeitungen. 1925 gab es in Berlin 30 Tagezeitungen und noch 40 zusätzliche Bezirkszeitungen für die 3,8 Millionen Einwohner der Reichshauptstadt. Die Stadt hatte ein legendäres Zeitungsviertel und alle großen Verlage verfügten über große Lesesäle. Führende Journalisten hießen damals Wolff, Tucholsky, Jacobsohn, Polgar, Ossietzky und Kisch. Erich Maria Remarque schrieb im Sportteil über Autorennen, Joseph Roth Reportagen. Um nur einige zu nennen. Wahre Größe. Theaterkritiken wurden ähnlich heiß erwartet, wie die neuesten Sportberichte. Ein Konkurrent von Alfred Kerr um den Thron des führenden Kritikers in der Stadt war Herbert Ihering. Dieser besuchte 1924 eine Aufführung von Schillers Wallenstein-Trilogie mit Werner Krauß in der Titelrolle. Das Wort geht an Herbert Ihering:
Wenn Werner Krauß nichts anderes getan hätte, als scheinbar logische Widersprüche in seelische Zusammenhänge hinaufzuführen – sein Wallenstein wäre eine theatergeschichtliche Tat geworden. Sein Wallenstein war mehr. (Berliner Börsen-Courier, 14.10.1924)
Schon zur Nazizeit aber vor dem Krieg, zwischen 1936 und 1937, hielt sich der noch unbekannte irische Autor und Dramatiker Samuel Beckett – ‚Warten auf Godot‘ sollte noch 20 Jahre auf sich warten lassen – in Berlin auf. Er ging ins Theater und notierte über Werner Krauß in sein Tagebuch:
Ein großer Schauspieler, nie einen besseren gesehen.
Den einmaligen Glanz dieser Schauspieler zu beschreiben, es bräuchte viele Bücher. Zwei echte Titanen, ihre Kunst und ihr Können nicht wiederholbar. Die Aussage mag etwas dumpf klingen, aber solche Giganten gibt es heute auf keiner Bühne dieser Welt mehr. Die grandiose Elisabeth Bergner sagte über Krauß „der größte Schauspieler aller Zeiten“, der nicht minder bedeutende Schauspieler Thomas Holtzmann sagte nach einer 50-jährigen Bühnenkarriere 2005 in einer TV-Dokumentation über Kortner „der einzig wirklich geniale Mann, mit dem ich in meinem Leben zusammengearbeitet habe“. Bei den Nazis war der Anti-Nazi, Demokrat und Republikaner Fritz Kortner der Prototyp des „bösen Juden“, über den sie Propagandadreck und Rufmord nebst ständigen Morddrohungen schon weit vor ihrer Blutherrschaft auskübelten. Kortner befand sich im Augenblick der Machtergreifung gerade auf Gastspieltour in Skandinavien und kehrte nicht mehr zurück. Ihm wäre die „Ehre“ der Nazis zuteilgeworden als einer der ersten gefoltert und erschlagen zu werden oder irgendwann ins Gas zu gehen.
Um Krauß in dieser Zeit eher viel Behaglichkeit und wohlige Bürgerlichkeit in der Sonne seines Ruhmes. Mit den Nazis auszukommen, war kein Problem. Krauß war Antisemit und mochte auch viel von dem menschenverachtenden Gedröhn des braunen Packs. Krauß wusste sich gut rauszuhalten, war einer dieser typischen Stammtischantisemiten, die es wie Regentropfen gab. Ansonsten nur der Bühne verpflichtet, für eine gute Rolle tat Krauß viel. Irgendwann alles. Als die Nazis ans Ruder kamen, ruderte Krauß früh und behaglich mit. Am Theater gab es viel zu tun, schließlich waren viele Kollegen emigriert, der UFA-Film, jetzt eher Goebbels-Film, rief nach seinem Format und seiner Wandlungsfähigkeit. Einmal noch sorgte Krauß auf dem großen Theaterniveau der 20er Jahre für Furore, als im Staatstheater, Kortners ehemaliger Wirkungs- und Triumphstätte, der geniale wie manische Theaterregisseur Jürgen Fehling ‚Richard III‘. von Shakespeare inszenierte. Früher eine Paraderolle des emigrierten Fritz Kortner. In der Inszenierung aus dem Jahr 1920 unter der Regie von Leopold Jessner raste und tobte Kortner über die Bühne, dass es die Zuschauer in die Sitze drückte. Nie soll sich ein Schauspieler auf einer deutschen Bühne so verausgabt haben. Der junge Kortner war für solche Kraftakte wie gemacht und darin einmalig. Im alten Kortner brannte diese Flamme bis in seine letzten Tage weiter. Krauß stand Kortner als Richard in nichts nach und lieferte – auch darin Kortner ähnlich – eine der größten Leistungen der deutschen Bühnengeschichte. Wenn Krauß die Rolle auch völlig anders anlegte. Den Regisseur Fehling sahen einige wegen dieser Aufführung schon im KZ. Die Zuschauer fast atemlos, es herrschte Diktatur und man schrieb das Jahr 1937. Zwischen dieser Premiere und den Vorstellungen spielte und filmte Krauß weiter unaufhörlich. Er war in seinem Element.
Fehling ließ diesen Richard III. mit zu großem Schwert, wackeliger Krone, blutigen Händen und einer unkontrollierten Machtgeilheit auftreten. Schleichend und verschlagen. Dessen Schergen, fast so wie SA Männer eingekleidet, mordeten munter für den Irrsinn ihres Anführers. Krauß spielte famos den Größenwahn und die Bosheit im Mantel des Biedermanns. Er soll absolut grandios gewesen sein. Im Rückblick war dieser Theaterabend die letzte öffentliche Bekundung gegen das schon lange etablierte Naziregime. Krauß, ein Vorzeigedeutscher für die Nazis und ein Sympathisant ihrer Schändlichkeit sowie Fehling, als Theatergenie dringend benötigt, kamen unbehelligt davon. Über das Hinken von Krauß, sein Richard führte den Klumpfuß so über die Bühnenbretter wie Goebbels den seinen, war geflüstertes Stadtgespräch. Das Staatstheater war auch der Machtbereich von Hermann Göring, der dem Propagandaminister gern eines auswischte. Krauß hatte mal wieder nur gespielt, diesmal sogar gegen seine neuen Freunde. Künftig stellte er sein Können dann aber vorbehaltlos in deren braune Dienste. Ob nun Propaganda- oder Durchhaltefilme und natürlich auf der Bühne, die ihm alles bedeutete. Auf die Frage, warum er alles und so viel spielte, fast jeden Abend in eine Rolle schlüpfte, sagte Krauß einmal: „Um nicht Werner Krauß sein zu müssen.“
Fritz Kortner war da schon vom Exil geprägt. Erst London, später New York und Kalifornien. Bei der Einreise in die USA ein Stich ins Herz. Buchstabieren sie ihren Namen lautet die Anweisung des Einreisebeamten. Niemand in den USA kannte diesen Löwen der Berliner Bühnen. Familienmensch Kortner wusste Frau und zwei Kinder sicher durchzubringen. Er lernte gutes und korrektes Englisch, spielte aus Geldgründen in Filmen, die unter seinem Können und Niveau. Filmrollen, über die er daheim nicht reden wollte. Es galt dem Broterwerb, nicht der Kunst, deswegen zog er darüber einen Schwamm. Sehr gutes Hollywood-Geld brachte ihm später ein besonderes Talent. Manchmal stecken Dreharbeiten beim Film fest, keiner weiß, weshalb und warum und wie man das Ding wieder in Gang setzt. Dann holen die Produzenten einen rettenden Blick von außen, der eine Idee liefert und empfehlen kann, wie es weitergehen könnte. Dafür besaß der hochintelligente und gebildete Kortner ein enormes und bald gefragtes Talent. Das Überleben also gesichert, die Not gebannt. Viel für einen Exilanten in damaliger Zeit. Kortner wusste sich und die seinen aus eigener Kraft zu behaupten. Andere nagten am Hungertuch, verzweifelten oder sprangen aus dem Fenster.
Nicht mehr auf der Bühne zu stehen, muss Kortner zerrissen haben. So konzertierte er sich auf Politik. Er bewunderte und unterstützte den gegen die deutschen Nazis mobil machenden Präsidenten Franklin D. Roosevelt, als die US-Öffentlichkeit noch mit den Nazis in gutem Einvernehmen. Die enorm einflussreiche Politikjournalistin Dorothy Thompson, die gegen Roosevelt agitierte, um die USA aus dem europäischen Krieg zu halten, kannte Kortner. Der wiederum argumentierte und erklärte Frau Thompson so intensiv die deutschen Verhältnisse, dass Thompson plötzlich zu einer Roosevelt-Unterstützerin wurde. Die Stimmung in den USA drehte sich auch dadurch zugunsten der Politik des Präsidenten. Enorm wichtig für die Briten und den künftigen Ausgang des Krieges. Als Winston Churchill sich bei seinem Geheimdienst erkundigte, wer und was den Sinneswandel in den USA bewerkstelligten, hörte er erstmals den Namen Kortner und fragte nach der Erklärung seiner Leute verblüfft nach: „Ein Schauspieler?“
Vor der Politik und der ganzen Welt kamen bei Kortner immer Frau und Kinder. An jedem zweiten Wochenende war Kortner in den Exiljahren abwechselnd entweder mit Sohn Peter Kortner (1924 – 1991) oder Tochter Marianne Kortner (1929 – 2014) unterwegs. Marianne erzählte noch im hohen Alter liebend von ihrem Vater. Der bestach sehr oft die Besitzer von Wurf- und Würfelbuden auf dem Rummelplatz, damit Marianne gewinnt und Freude hat. Aber Marianne kam ihrem Vater irgendwann dahinter, weil sie so viel Glück selbst als Kind nicht glauben wollte. Nach dem puren Spaß das obligate gute Essen und die Frage des Erwachsenen, was die Kinderherzen aktuell beglückt oder bedrückt. Damals waren solche Väter noch eine Ausnahme, heute gibt es viele Väter, die wie Kortner sind, was diesen Menschenfreund beglücken würde. Für Kortner gab es tiefe Ehrlichkeit nur in Kinderherzen zu finden. Sohn Peter und Tochter Marianne waren ihrem Vater wie der Mutter zeitlebens dankbar, dass sie 14 Jahre Exil nicht wie eine Katastrophe erlebten und unbeschadet aufwachsen konnten.
Eine Rolleninterpretation von Kortner und Krauß ging in die Geschichte ein. Die Türen zu berühmt und berüchtigt öffneten sich. Kortner spielte vor der Machtergreifung der Nazis in Shakespeares ‚Kaufmann von Venedig‘ in unterschiedlichen Inszenierungen den Shylock, ging mit der Rolle auch in ganz Europa erfolgreich auf Tournee. Noch 1968 spielte der todkranke Kortner den Shylock letztmals in einem Film. Er erschütterte und bewegte Menschen zutiefst und ließ sie nachdenklich aus dem Theater gehen. Als Werner Krauß 1943 den Shylock im Wiener Burgtheater spielte, gingen der Abend und die Leistung von Krauß ebenfalls in die Geschichte ein. Allerdings in die Geschichte des Bösen. Was Krauß vor Publikum und Nazigrößen bot, muss entsetzlich gewesen sein. Der Zeitzeuge und Theaterforscher Günther Rühle zog den Vergleich mit Kortner und kam zu folgendem Ergebnis: „Wenn Kortner den Shylock spielte, ging man menschlich aus dem Theater. Nach Krauß Vorstellung verließ man das Theater als Antisemit.“ Krauß machte genau in der moralischen Gosse weiter, in die er schon 1940 gesprungen war, indem er das übelste Filmmachwerk der Nazis mit seiner Kunst ehrte.
Zum Wohlgefallen von Joseph Goebbels spielte Werner Krauß nämlich in Veit Harlans „Jud Süß“ Film sechs jüdische Rollen in einer so perfiden Ausrichtung, dass die Nazis-Bonzen ihr Propagandaglück gar nicht fassen konnten. Goebbels und Hitler waren begeistert. Die Deutschen, von jeher ein elendes Pack unter den Völkern, von perfider Lumperei immer magisch angezogen, rannten geifernd ins Kino. 20 Millionen Zuschauer! Darunter auch die Wachmannschaften von Auschwitz-Birkenau. Der übelste Propagandafilm der Nazis wurde ein „Erfolg“ auch wegen Werner Krauß. Dieser hatte sich und sein Können auf ewig beschmutzt. Wohlmeinende Freunde wie Wolfgang Liebeneiner, die ihn hinter vorgehaltener Hand warnten, das doch bloß nicht zu tun, wurden von ihm abgebügelt. Er protzte damit an, schließlich sechs Rollen in einem Film zu spielen und sprach von einem Geschenk für jeden Schauspieler. So sah die Welt des Werner Krauß aus. Bis 1945.
Als Hitlers tausendjähriges Reich in Flammen untergeht bekommt Krauß Berufsverbot und wartet. Warten tut auch Fritz Kortner. Auf seine Rückkehr nach Deutschland. Er kommt früh. 1947. Die US-Staatsbürgerschaft behält er. Den Deutschen traut dieser Gezeichnete nie mehr. Wie auch? In seinen Lebenserinnerungen kann man es nachlesen: „Ich erfuhr, dass aus meiner Familie elf Verwandte vergast worden waren.“ Was wohl Werner Krauß dazu gesagt hätte? Kortner soll sofort am Deutschen Theater in Berlin den König Philipp im ‚Don Carlos‘ spielen. Eine frühere Glanzrolle von ihm, in der ihm wiederum nur Werner Krauß das Wasser reichen konnte. Daraus wird aber nichts. Das Deutsche Theater liegt im sowjetischen Sektor, der Kalte Krieg dämmert längst auf. Kortner könnte seine US-Staatsbürgerschaft verlieren. Also muss er absagen, spielt dafür in einem Film, für den er das Drehbuch verfasste. Besonders die Regie am Theater interessiert ihn da längst mehr als die Schauspielerei. 1950 inszeniert er im Westteil Berlins selber den ‚Don Carlos“, spielt auch die Rolle des König Philipp. Berlin jubelt, Kortner ist zurück. Der Jubel verhallt. Kortner schafft es, mit Schillers Drama den Deutschen den Spiegel vorzuhalten, für alles, was sie zwischen 1933 und 1945 getan und nicht getan. So etwas wollen die alten Nazis und die kommenden Wirtschaftswunder-Deutschen nicht hören. Kortner verlässt bald Berlin, siedelt sich in München an.
1953 inszeniert Kortner wieder im Westteil Berlins. Das Antikriegsstück „Der Preispokal“ von Seán O’Casey. Gegen den Krieg und für den Frieden. So etwas wollen die alten Kameraden nun überhaupt nicht hören. Längst sitzen sie wieder in Vorstandsetagen vor Landkarten und in Schaltstellen der Macht, grübeln, warum sie den Krieg gegen „den Russen“ verloren haben. Jetzt möchten sie eigentlich Atomwaffen und eine nächste Chance im Osten. Da kommt ihnen dieser Kortner ausgerechnet mit Frieden und wettert gegen den Krieg. Einem Emigranten, Antifaschisten und Juden traut der anständige Deutsche nicht. In diesem Klima, in dem der braune Dreck längst wieder oben schwimmt, die Täter rehabilitiert, reingewaschen oder unbehelligt, lebt auch Werner Krauß wieder auf. Das Berufsverbot aufgehoben, spielt Krauß ebenfalls im Westteil Berlins. Dagegen erhebt sich Protest junger Leute, der im Jubel von deren braunen Vätern aber untergeht. Dennoch macht sich Krauß aus Berlin fort. Es gibt andernorts wieder viel zu spielen und alle seine großen Rollen warten erneut auf ihn. Auch der König Philipp. Er zieht von Triumph zu Triumph. Verlernt hat Werner Krauß nichts. 1954 wird ihm das Bundesverdienstkreuz verliehen, „Jud Süß“ hin oder her.
1957 verleiht man auch Fritz Kortner das Bundesverdienstkreuz. Noch eine höhere Stufe. Mehr Gemeinsamkeiten gibt es zwischen den beiden Granden des deutschsprachigen Theaters nicht. Krauß spielt derweil und hält sich von anderen Dingen fern, zur Vergangenheit möchte er nicht mehr befragt werden. Kortner inszeniert, eckt immer wieder bei Ewiggestrigen an und schneidet dem Theater gerne verstaubte Zöpfe ab. Er wird bis an sein Lebensende ein gefeierter und gefürchteter Regisseur bleiben, der im deutschsprachigen Theaterraum Maßstäbe setzte, die bis heute gültig. Eine Theaterleitung hat man ihm allerdings nie übertragen, diese Jobs waren eher alten Nazisympathisanten vorbehalten. Seine vielleicht großartigste Inszenierung ‚Warten auf Godot‘ von Samuel Beckett, mit Heinz Rühmann, Ernst Schröder und Friedrich Domin. Als Schauspieler ist er nicht mehr oft zu erleben. Wenn doch, dann landet er Triumphe, wie sie nur Werner Krauß schafft. Seine schönste Altersrolle, der Krapp von Samuel Beckett im ‚Letzen Band‘. Außerdem schreibt Kortner die intensivsten Memoiren, die je ein Schauspieler verfasste. Kortner war ein scharfsinniger Beobachter seiner Zeit, nicht nur des Theaters. Davon lebt und sprüht sein Buch bis heute und bleibt zeitlos gültig. Sehr zu empfehlen.
Wer kann heute noch Schauspieler dieser Qualität beurteilen, wo Maßstäbe eher lästig als gültig? Die Menschen lassen sich im Spiegel ihrer Zeit werten. Da muss jeder sein eigenes Urteil finden. Es lässt sich wohl sagen, dass es in Deutschland zu allen Zeiten – bis in die unsere hinein – immer zu wenig Menschen vom Charakter des Fritz Kortner gegeben hat und zu viele vom Opportunismus des Werner Krauß. Jedenfalls reichen ihre Nachklänge bis in die Moderne. Im Internet lässt sich vor allem bei YouTube in Sachen Fritz Kortner die Spur aufnehmen und einiges hochinteressante finden. Von Werner Krauß dagegen wenig. Bei YouTube dennoch eine Gemeinsamkeit der Männer, die außer dem Beruf und ihrer Profession nichts verband. Zwei Tondokumente. Beide haben im hohen Alter für die Schallplatte die ‚Apologie des Sokrates‘ von Platon eingesprochen. So kann man ein beeindruckendes Stück Weltliteratur und Philosophiegeschichte von zwei Großmeistern der Sprache nachhören. Am Ende heißt es bei Platon:
Jedoch – es ist Zeit, dass wir gehen: ich, um zu sterben, und ihr, um zu leben. Wer aber von uns beiden zu dem besseren Geschäft hingehe, das ist allen verborgen, außer nur Gott.
Werner Krauß ging im Alter von 75 Jahren am 20. Oktober 1959. Fritz Kortner ging im Alter von 78 Jahren am 22. Juli 1970. Fritz Kortner sagte über Werner Krauß:
Ein Nazi und ein Schweinehund – aber ein großer Schauspieler.
*Titelbild: Fritz Kortner auf der Bühne der Münchner Kammerspiele (Screenshot: Syberberg-Film über Kortner, 1966)