Kultur

Marianne and Irina

In den Sechzigerjahren wie ein Gemälde, schön, intensiv und bestaunt. Ihre Gesichtszüge mit einer Ähnlichkeit zu denen von Jean Seberg. Mit den optischen Filmikonen der damaligen Zeit, ob nun Bardot, Cardinale oder Lollobrigida, konnte die Ausstrahlung von Faithfull durchaus mithalten. Aber über allem diese außergewöhnliche Stimme. Ihr eigentliches Metier, die Musik. Nachdenken über das eigene Talent und den rasanten Aufstieg konnte sie nicht, zu schnell nahmen Leben und Karriere Tempo auf. In jener Zeit sogar Inspiration für die Rolling Stones und Muse von Mike Jagger. Als Musikerin ihm dabei durchaus ebenbürtig, mit ihm gemeinsam wegen Cannabisgebrauch vor Gericht. So etwas gab es mal. Anders als Jagger blieb diese charismatische und selbstbewusste Frau noch lange bei den Drogen, ließ in dem Teufelskreis wenig aus, bis Mitte der Achtzigerjahre sogar mit üblem und hartem Zeug zugange. Für Spießer war so ein Wesen nicht gemacht. Obwohl Tochter aus adeligem Haus machte sie sich bald aus dem hochnäsigen Staub der britischen Oberschicht, sprang in die Popwelt und mitten in die dortigen Abgründe. Dann ein pralles Leben auf mehreren Achterbahnen. In die Jahre gekommen, erkrankte sie 2020 schwer an Corona, musste in die Klinik. Viele läuteten ihr Sterbeglöckchen. Als sie einen Blick auf ihr Behandlungsprotokoll warf, sah sie den Eintrag „nur noch Palliativbehandlung“. Sie war also aufgegeben und der Sensenmann schon vor der Tür. Heroinsucht, Bulimie, Selbstmordversuche, Obdachlosigkeit, Brustkrebs, Hepatitis C und ein Hüftbruch mit diversen Komplikationen pflasterten diesen schrillen Lebensweg. Ein so malträtierter Körper, wie geschaffen als Opfer eines heimtückischen Virus. Von wegen! Nichts da. Wieder stand Marianne Faithfull von den Toten auf.

Marianne Faithfull 1968 (Screenshot: „The Girl on a Motorcycle“)

Über ihre Corona-Erkrankung, deren Nachwirkungen und Folgeproblemen sprach Marianne Faithfull im Januar 2021 sehr offen im Guardian: „Ich habe das Leben gelebt, das reicht. Ich weiß nur, dass ich an einem sehr dunklen Ort war – vermutlich war es der Tod. Es ist wild. Die Dinge, die ich vergesse. Ich erinnere mich sehr gut an die ferne Vergangenheit. Es sind die letzten Dinge, an die ich mich nicht erinnern kann. Und das ist gruselig. Abscheulich. Du würdest nicht glauben, wie schrecklich es ist. Ich fühle mich dennoch nicht verflucht, sondern nur verdammt menschlich. Diese wirklich nette Ärztin kam zu mir und sagte, sie glaube nicht, dass sich meine Lungen jemals erholen würden. OK, vielleicht werden sie es nicht, aber vielleicht doch. Wir müssen hoffnungsvoll sein – es ist wirklich wichtig. Und das bin ich, ja. Ich bin verdammt noch mal immer noch hier.“

Marianne Faithfull 2018 (Screenshot Arte Doku: „Der raue Glanz der Seele“)

Einst sang Marianne Faithfull die Ballade von Lucy Jordan und viel von Einsamkeit. „The Ballad of Lucy Jordan“ und „Broken English“ sind längst Musikgeschichte und unsterblich. Hatte diese Stimme früher das feine Timbre einer Opernsängerin, machten die Jahre den Klang rauer, härter und lebensvoller, eben anders, aber nicht schlechter. Marianne Faithfull spürte diese Veränderung und nahm eben noch Brecht/Weil in ihr Programm auf. Hört man sie mit dem Alabama-Song oder der Piraten Jenny, dann ist sie auf Höhen von Lotte Lenya, Milva oder Gisela May unterwegs. Ganz oben. Dennoch kein Magnet mehr für das Massenpublikum. Die Zuhörer wurden weniger, die Stadien und großen Hallen über die Jahre durch kleinere Bühnen und Clubs ersetzt. Der Zahn der Zeit nagte oftmals bis an die Grenze der Selbstaufgabe. Trotz alledem, Marianne Faithfull macht derweil, was sie neben dem Singen immer besonders gut konnte: Überleben.

Plaisir D’Amour“ – Paris 1966 (Screenshot Konzertmitschnitt)

Ein Genuss ist das Konzert der jungen Marianne Faithfull im Pariser Olympia 1966. „Plaisir D’Amour“ singt sie wie ein gefallener Engel, einer dieser Momente „einmal im Leben“. In „Sister Morphine“, 1969 gemeinsam mit Mick Jagger und Keith Richards geschrieben, bringt sie die Drogentrips zum Klingen, an denen ein Brian Jones, Jimi Hendrix, Jim Morrison und viele aus der Musikszene zerschellten. Wie „Solitude“, „Broken English“, „The Ballad of Lucy Jordan“ bleibt auch „Sister Morphine“ lebenslange Hymne der Faithfull. Die Faszination der einzigartigen Stimme von Marianne Faithfull blieb über die Jahre vor großem wie kleinem Publikum ungebrochen und faszinierte noch jeden Zuhörer. Wer sie noch nie gehört, was kaum vorstellbar, der hat das frische Glück einer großartigen Entdeckung noch vor sich. Eine Empfehlung in Sachen Marianne Faithfull sei der Mitschnitt aus dem Londoner St Luke’s (2009) mit ihren legendären Songs für die Ewigkeit. Außerdem ein Konzert aus Montreal (1997), dieses ebenfalls mit ihren zentralen Titeln und eben mit den Balladen von Bert Brecht und Kurt Weil im unnachahmlichen Faithfull-Sound. Hinhören und genießen und nicht an Vergänglichkeit denken. Inzwischen ist Marianne Faithfull 75 Jahre und lebt seit Kurzem in einer gehobenen Seniorenresidenz irgendwo in London. Die Nachwirkungen von Corona nehmen ihr nicht nur die Luft zum Atmen, sondern haben ihr höchstwahrscheinlich auch die Stimme verdorben und die Gesangskarriere beendet. Außerdem bereut die ewige Kettenraucherin inzwischen jede Zigarette. Was kommt, weiß man nicht. Es gilt abzuwarten und zu hoffen. Wir werden sehen und vielleicht noch einmal hören. Was war, ist allerdings längst Legende und somit unsterblich. Den Schlusssatz unter ihr Leben hat Marianne Faithfull längst gesprochen. 2018 sagte sie ohne jede Larmoyanz: „Ich bin keine Rebellin mehr. Ich habe mich ergeben. Das heißt nicht, dass ich konformistisch wäre. So weit würde ich nicht gehen. Aber ich habe mich ergeben.“ 

Die Augen der Marianne Faithfull. (Screenshot: Konzert 1966)

Vorhang auf für Irina („Die beste rechte Hand in London.“)

Ein solcher Tausendsassa ist natürlich auch auf der Leinwand unterwegs gewesen. Nicht umfänglich, eher sporadisch hat sich Marianne Faithfull als Schauspielerin auf Filmprojekte eingelassen. Dabei nicht viel Spektakuläres. Ikonenhaft in den Sechzigerjahren die Motorradkluft auf nackter Haut in „The Girl on a Motorcycle“. Dann in den späten Jahren ein cineastischer Treffer, der überdauern könnte. Auf diesen Film („Irina Palm“, GB 2007, Regie: Sam Garbarski) wollen wir jetzt schauen.

Eine Hausfrau (Marianne Faithfull) wächst über sich hinaus. (Screenshot: Irina Palm)

Das Enkelkind lebensbedrohlich erkrankt, Sohn und Schwiegertochter nicht in der Lage, die notwendige Behandlung zu bezahlen, sucht Oma Maggie verzweifelt nach einer Lösung gegen den drohenden Tod. Diese unauffällige Hausfrau und Großmutter aus der britischen Unterschicht, niemand anderes als Marian Faithfull (Was für eine ironische Besetzung gegen jeden Strich und jede Logik!), ist bereit, für das Leben ihres Enkels in einem Sexclub in der Londoner City zu putzen. Nichts da mit putzen. Der Clubbesitzer stellt zufällig die Weichheit von Maggies Händen fest und das Schicksal nimmt mal wieder Lauf auf. Bevor Maggie sich versieht und den Schock des Wortes „runterholen“ verdaut hat, betreut sie eine Kabine, die neben grauer Tristesse noch über ein spezielles Loch in der Wand verfügt. Männer jeder Sorte stecken ihr angeblich bestes Teil durch dieses und dann kommt Maggie mit ihren weichen Händen zum Zug und sorgt für Entspannung in Leben, die so grau wie ihre Kabinenwände. Wie Regisseur Sam Garbarski das diskret erzählt und auf dem unnahbaren Gesicht von Marianne Faithfull spiegelt, es ist eine Sternstunde des einfachen Kinos. Später verschönt Maggie ihre Wichskabine mit Blümchen, nagelt Bilder an die Wand und stellt einen hübscheren Gel-Spender auf. Ihre Kabine ist da längst die Attraktion im Club. Jüngere Mädels werden gekündigt, weil alle nur noch zu Maggie wollen und vor deren Kabine Schlange stehen. Der Ruf von Maggies Händen macht die Runde und sorgt sogar für Abwerbungsversuche aus der Sex-Branche. Die stille Hausfrau und Witwe überwindet nicht nur ihren Anfangsekel, sie findet sich erstmals im Leben mit etwas wieder, was ihre eigene Leistung spiegelt und auf ihrem Mist gewachsen. Ins Leben dieser Frau finden sich Selbstachtung und Stolz ein.

Maggie wird Irina. Marianne Faithfull mit Kittelschürze im Dienst für Miki. (Screenshot: Irina Palm)

Das Geld kommt fließend und sogar mit Vorschuss. Clubbesitzer Miki traut seinen Augen nicht und sieht seine beste Kabinenfrau plötzlich mit anderem Blick und mit diesem auch auf sein eigenes Leben. Wie ihr Sohn diese „Entdeckung“ aufnimmt, wie die Berufskrankheit „Penis-Arm“ Maggie nicht aufhalten kann, was das in ihrem spießigen Damenkränzchen und im heimischen Einkaufsladen auslöst, darüber soll nichts verraten werden. Die Geschichte ist bei aller Skurrilität eher unscheinbar, aber wie sie erzählt wird, ist großes Kino im einfachen und gerade daher authentischen Format. Der Plot handelt auch vom Überlebenswillen kleiner Leute und erzählt davon ohne Herablassung. Und dann ist da eben noch Marianne Faithfull, die als graue Maus und Endfünfzigerin grandios aufspielt, in dem sie wenig tut. Mit Stille und einer minimalistischen Ausdruckspalette kommt sie durch einen ganzen Film, dominiert diesen, ohne sich nach vorn zu spielen. Nur ihre Augen erzählen ein Universum, manchmal mit leuchtendem Entsetzen, manchmal mit sprühender Ironie und stets mit großer Ruhe. In ihrem Blick schimmert manchmal noch die Popikone der Sechzigerjahre durch. Der schönste Satz des Films kommt von Maggie und gilt ihrem verstorbenen und untreuen Gatten: „Er war so schwach wie sein dünner Tee.“ Ein Film, der einem keine Lebenszeit raubt und der das Ansehen lohnt. Wie der Film und Maggie durch Clubbesitzer Miki zum Künstlernamen „Irina Palm“ kam, darf sich jeder mit einem Maß an Fantasie und Zweideutigkeit ausmalen. Wie sagt Maggie im Film: „Ich bin die Beste“. Über Marianne Faithfull ließe sich so etwas bis heute ebenfalls sagen.

Bei den „Internationalen Filmfestspielen Berlin“ 2007 war „Irina Palm“ ein Highlight aus Sicht der Kritiker und des Publikums. Ein eher seltener Gleichklang. Es half alles nicht. Den Preis des Festivals gewann nämlich ein chinesischer Film, der in einer mongolischen Jurte spielte. So viel zum Kino und dessen Jurys, Experten, Schwätzern und intellektuellen Verderbern. Aber das ist wieder eine andere Geschichte. Auch Kubrick, Leone und Hitchcock gewannen nie einen Oscar. Also: „Irina Palm“ ansehen und vor allem Marianne Faithfull auch mal wieder hören.

*Titelbild: Marianne Faithfull Konzertmitschnitt 2009 in London (Screenshot)

 

 

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert