*Charlie Watts gewidmet
Auch im Tod bewegen sie Massen. Die Trauer um das Ableben von Charlie Watts rief die weltweite Rolling Stones-Gemeinde intensiv auf den Plan und vereinte sie in Trauer. Wobei das Wort Gemeinde zu klein greift, es ist wohl eher von einem Universum zu sprechen. Das Universum der Rolling Stones war immer leicht zu beschreiben: Es gibt die Sonne, den Mond, die Sterne und die Rolling Stones. So klar, so richtig. Ja, ja, natürlich Beatles, The Doors, Jethro Tull, Pink Floyd, The Who, Deep Purple, AC/DC, da waren schon einige Giganten unterwegs im Rock ’n‘ Roll Zirkus. Doch mit Verlaub, die Stones darunter eben die Unerreichten. Eine Band gab es, die flog in ihrer Zeit von 1968 bis 1980 auf Augenhöhe mit den Stones, das muss man eingestehen. Plant, Page, Jones, Bonham, besser bekannt als Led Zeppelin. Was für Musik. Vergleiche anstellen, führt hier nicht weiter. Gut, dass der Rock and Roll solche Bands hervorbrachte. Zurück zu den Stones. 2022 werden es 60 Jahre und dieses Jubiläum muss nun ohne Charlie Watts gedacht werden, den Drummer, der sich immer in den Hintergrund begab und doch Zentrum war. Zu ersetzen ist er nicht, weder als Drummer, noch als Mensch, noch als Stone. Aber es wird weitergehen. Sonst wären es nicht die Stones.
Wenn es den ultimativen Rock ’n‘ Roll Titel gäbe, jeder hat da sicher einen anderen Favoriten, könnte es vonseiten des Verfassers „Paint It Black“ sein. Allerdings sagt selbst Keith Richards, es gibt ihn nicht, diesen ultimativen Rock ’n‘ Roll Titel. Aber bleiben wir bei „Paint It Black“. An dessen Dramaturgie lässt sich vieles erklären, was die Stones ausmacht, was sie einmalig macht. Wenn Richards die Gitarre anwarf und den unvergleichlichen Rolling Stones-Rhythmus vorgab, dabei seinen Arm in die Höhe reckte, war für Stones Fans Gänsehaut angesagt. Sobald der Arm dann fiel, legte Charlie Watts los und eine Einmaligkeit der Stones war zu bewundern und zu hören. Richards und Watts waren musikalisch auf einer Wellenlänge unterwegs. Blindes Einvernehmen. Darüber soll aber ein Kenner dessen reden, was da so passierte. Keiner konnte den Zauber besser beschreiben als Bill Wyman (84), von 1962 bis 1993 Bass der Stones und in seiner stoischen Ausstrahlung ein Zwillingsbruder von Charlie Watts: „Jede Band folgt ihrem Schlagzeuger. Wir nicht. Charlie folgte Keith. Und das Schlagzeug war immer einen Tick hinter Keith. Nur einen winzigen Sekundenbruchteil. Und ich spielte dazu nach vorn. Genau das schafft einen stolpernden Groove und ist gefährlich, weil es jeder Zeit auseinanderfallen kann. Das konnte uns keiner nachmachen.“ Wie gesagt, bei „Paint It Black“ lässt es sich nicht nur hören sondern auch optisch bewundern, wenn man sich Mitschnitte von Liveauftritten ansieht. Wenn sich Richards dann noch zum Schlagzeug bewegte und von Charlie Watts sogar einen lächelnden Blick der völligen Übereinstimmung bekam, war man mitten im Rock ’n‘ Roll und im Herzen der Stones. Pure Magie.
Die Wunde des Verlustes von Charlie Watts bleibt, wird nicht heilen. Dennoch tickt die Urkraft Jagger/Richards weiter. Mike Jagger (78) und Keith Richards (77) waren immer das musikalische Kraftfeld der Band, wohl das langlebigste und kreativste Duo der Rock ’n‘ Roll Geschichte. Jagger, geborener Liveperformer, musikalisches Multitalent und Richards, einer der besten Gitarristen der Rock ’n‘ Roll Geschichte sind über alle Ausbrüche, Streitereien, Eitelkeit und Hassliebe fast ein altes Ehepaar geworden, welches immer noch volle Akkus hat. Hat eigentlich irgendein Künstler auf dieser Erde je mehr Kilometer auf einer Showbühne zurückgelegt als der dynamische Explosivkörper Mike Jagger? Man darf gespannt sein, wo die Temperamente von Jagger und Richards nun ihren ausgleichenden Hafen finden, der Charlie Watts immer war. Ron Wood (74), wenn auch „erst“ seit 1975 dabei, wird helfen. Er ist längst ein Vollblut-Stone. Das Gequatsche vom nicht echten Stone ist Bullshit. Dieses Trio kann das Jubiläum 2022 schaffen und die Menschen weiter erreichen und bewegen. Die Stones zeigten immer eine besondere Stärke, das Publikum jeder Generation zu packen. Auch darin waren sie immer absolut zeitlos. Die Menschen strömen bis heute zu ihrer Musik, zu ihrer Performance, natürlich zu der lebendigen und temperamentvollen Legende. Großeltern, Eltern, Kinder, Enkel, der Bann der Stones fängt alle ein. Mögen die Rolling Stones für uns und sich selbst die trügerische Illusion von Unsterblichkeit und Ewigkeit noch eine Weile aufrechterhalten. Diese schöne Lüge hat durch die Stones immer ihren Zauber behalten. Welche Art von Beständigkeit in dieser schnelllebigen Zeit vermag da noch mitzuhalten?
An den Rolling Stones Gründer Brian Jones († 1969) soll hier natürlich erinnert werden und selbstverständlich an Mike Taylor (72), dann sind hier alle Stones genannt. Billy Wyman wurde schon zitiert. Die Tragödie um Jones, die diversen Drogenexzesse oder wer und wann mit Anita Pallenberg im Bett war, soll hier nicht zum Thema werden, man könnte Bücher füllen. Jones starb, die anderen überlebten. Was gerade bei Keith Richards und dessen Drogen- und Rauschkonsum wie eine Naturgewalt plus mehrerer Wunder wirkt. Als Brian Jones der Tod ereilte, war der Bandgründer schon drei Wochen lang kein Rolling Stone mehr. Noch heute trauern Puristen dem angeblichen Genie Jones nach. Aber dies scheint überzogen. Mit ihm wäre es nicht mehr lange gut gegangen, die Stones dann in Gesamtheit gescheitert. Die Trennung dennoch unglücklich. Charlie Watts brachte es auf den Punkt: „Wir nahmen ihm, was er einzig wollte, in einer Band zu spielen. Es war schrecklich.“ Längst ziehen die Stones mit einem Tross großartiger und begnadeter Musiker um die Welt, für die hier stellvertretend Chuck Leavell und Darryl Jones genannt werden sollen. Für Charlie Watts soll künftig einer am Schlagzeug sitzen, den er selbst ausgewählt, mit dem er befreundet war: Steve Jordan. Man darf gespannt sein, wie die Band, die mehr Leben als eine Katze hat, weitermacht. Eines wird sich nicht mehr ändern, egal was passiert. Die Rolling Stones sind die größte Rock ’n‘ Roll Band des 20. Jahrhunderts, die es mühelos ins 21. Jahrhundert geschafft hat und die auf ihrer Höhe einzig und einmalig. Diese Tatsache wird die Stones und ihre Fangemeinde überdauern, bis in alle Ewigkeit so bleiben.
Viele großartige Musiker legten dieser Tage Zeugnis von ihrer Verehrung für Charlie Watts ab. Grateful Dead, Guns N‘ Roses, Billy Joel auf Konzertbühnen und Ringo Starr, Graham Nash, Jim Keltner, Ry Coodervon und Paul McCartney zollten in diversen Medien ihren Respekt. Berührend die Worte von Pete Townshend auf Instagram: „Charlie Watts weinte bei Keith Moons (Anm. d. Red.: Schlagzeuger von The Who) Beerdigung. Ich wünschte, ich wäre heute zu solchen Tränen fähig. Stattdessen möchte ich mich nur verabschieden. Kein Rock-Schlagzeuger, wirklich ein Jazz-Schlagzeuger, und deshalb haben die Stones so geschwungen!! So ein liebenswerter Mann. Gott segne seine Frau und seine Tochter. Ich wette, die Pferde werden ihn auch vermissen.“
Charlie Watts wurde letzte Woche bei einer diskreten Beerdigung im Familienkreis in Großbritannien beigesetzt. Seine Mitstreiter und Bandkollegen konnten aufgrund von Corona-Beschränkungen nicht teilnehmen. Mick Jagger, Keith Richards und Ronnie Wood proben in Boston (USA) für ihre bevorstehende „No Filter“-Tour, die am 26. September in St. Louis, Missouri, beginnen wird. Während der Konzerte will die Band Charlie Watts mit dem ehren, was sie immer getan, auf einmalige Stones-Art Musik machen und kein weiteres Tamtam. Charlie Watts würde diese Art Normalität so gefallen, wie er wohl auch die Unaufgeregtheit um seine Beerdigung geschätzt hätte. Die Stones werden die legendäre rote Zunge während der Tournee auf der Bühne in eine schwarze Zunge verwandeln, eine Hommage an ihren Drummer. Diese Geste wäre Charlie Watts vielleicht schon zu viel. Öffentlichkeit im Privaten und Spektakel um persönliche Dinge waren diesem Mann stets verhasst. Ruhe sanft großer Trommler.
*Titelbild: Stones-Konzert 2018 in Prag (Screenshot Konzertmitschnitt)